Erotisches Potenzial, Stiere Und Cellulite – Stefan Eigenmann

Da sagt der jüngste Bulle: „Schaut mal, da kommen auf jeden von uns mindestens drei Kühe!“ Der mittlere Bulle meint: „Ach, eine würde doch auch reichen.“ Darauf der älteste: „Wenn wir uns rechtzeitig verstecken, sehen sie uns nicht.“

Erotische Qualität
Dieser Witz veranschaulicht einen Mythos auf radikale Weise: Den besten Sex meinen wir in der ersten Hälfte unseres Lebens zu haben, im Vollbesitz unserer Kräfte. Mit dem Älterwerden, wenn Saft, Kraft und Begehren nachlassen und Orangenhaut, Wohlstandsbauch und andere Problemzonen zunehmen, bleibt ausser Mühsal und Erinnerung an bessere Zeiten nicht mehr viel übrig. Meinen wir.

Obwohl erotische Qualität wesentlich mit Erfahrung, Reife und Weisheit zu tun hat, wird Merkmalen wie Funktionstüchtigkeit und Vollzugshäufigkeit ein höherer Stellenwert beigemessen. Erotisches Potenzial und Cellulite stehen gegen den Jugendlichkeitsmythos auf verlorenem Posten. Das ist für Frauen gar noch eine Spur schmerzlicher. Während ältere Männer mit jüngeren Geliebten höchstens moralische Empörung ernten, wird über die Sexualität reifer Frauen gerne geschwiegen.

Daran möchte ich mit einer Analogie anknüpfen. Führen Sie sich einmal Ihre berufliche Karriere vor Augen. Wahrscheinlich wissen Sie ziemlich genau, ob Sie den Höhepunkt in Ihrem Berufsleben bereits erreicht haben. Bestimmt haben Sie ein Gespür dafür, was Sie noch erreichen wollen bzw. was Sie vom Leben noch erwarten.

Betrachten Sie nun Ihre persönliche sexuelle Biografie und fragen Sie sich, was Sie als Höhepunkt Ihrer sexuellen Karriere bezeichnen würden. Vielleicht kommen Sie (bedauerlicherweise?) zum Schluss, dass Ihr ultimatives sexuelles Erlebnis bereits hinter Ihnen liegt. Oder Sie hören eine innere Stimme stöhnen: „Gott sei Dank sind Stress, Druck und schmerzliche Frustration endlich vorbei.“

Sexueller Karrierehöhepunkt
Liegt der sexuelle Karrierehöhepunkt noch vor Ihnen, dann können Sie sich fragen, was Sie unbedingt noch erleben möchten und welche Ihrer wertvollsten erotischen Ressourcen sie für die Erreichung Ihrer Ziele einsetzen wollen. Sie können die Beantwortung dieser Frage mit einer eher geizigen oder eher grosszügigen Haltung angehen. Und Sie können prüfen, welche Bedeutung die Frage für Sie hat, mit wem Sie Ihren Höhepunkt erleben möchten.

Der eingangs erwähnte Witz ist beschämend. Realistischerweise und übertragen auf uns Menschen könnte die Geschichte genauso gut auch umgekehrt erzählt werden. Dann würde sich der jüngste Bulle unsichtbar machen, weil ihn die Situation unter Druck setzte beziehungsweise er sich angesichts der Fülle überfordert fühlte. Wer verargte es ihm?

Andererseits würde es mich nicht überraschen, wenn sich der älteste Bulle über die vielfältigen Möglichkeiten am meisten freute. Mit seiner Gelassenheit und Reife wäre er von den Dreien wohl am ehesten in der Lage, sich der Herde Kühe entspannt und genüsslich anzunähern. (Schliesslich muss ein Bulle ja nicht befürchten, als alter Lüstling abgestempelt zu werden.)

Ich überlasse es Ihnen und Ihrer erotischen Fantasie, die Geschichte weiterzuentwickeln und sie aus Sicht der Kuhherde zu erzählen.

Stefan Eigenmann, geb. 1960, in 2. Ehe verheiratet, arbeitet in Bülach (CH) seit 2003 freiberuflich als Einzel-, Paar- und Sexualberater. In seiner ‘Werkstatt für Kontakt & Dialog’ begleitet er Einzelne, Paare, Familien und Gruppen in Krisen- und Konfliktsituationen sowie in Entwicklungs- und Veränderungsprozessen.

Als lizenzierter The Art of Being®-Lehrer leitet Stefan Eigenmann ausserdem Seminare und Trainings. The Art of Being® ist eine ganzheitliche, vom Tantra inspirierte Lebensschule für Liebe, Intimität und Bewusstsein. Zusammengefasst geht es um die lebenslange Lerneinladung, achtsam mit dem zu sein, was ist.

Seit August 2007 erschien im ‘Tages-Anzeiger’ (Zürcher Unterland) alle zwei Wochen eine Kolumne von Stefan Eigenmann. “Liebe, Lust und Stolpersteine” handelt von (allzu) menschlichen Erfahrungen mit der Liebe und der Lust.